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Statement setzen statt strategisch Wählen

Oliver Bayer, Listenplatz 10 der NRW PIRATEN
Oliver Bayer, Kreisvorsitzender der Düsseldorfer PIRATEN und Listenkandidat der Piratenpartei NRW zur Bundestagswahl zur Campact Mail vom 22. September 2017:

Campact kurios: Wer gegen die AfD ist, soll der eingefahrenen Politik ein „Weiter so“-Zeichen geben, also ausschließlich Union, SPD, Linke, Grüne oder FDP wählen.

Diese Wahlempfehlung für die Parteien, die uns ja erst zur Parteienverdrossenheit und zur AfD geführt haben, ist unlogisch und für eine aktivistische Plattform unmoralisch. Sie verkennt auch vollkommen, was eine Demokratie ausmacht. Es ist die Vielfalt und die Möglichkeit zur Veränderung auch ohne gewaltsame Revolution.

Nett, dass Campact die PIRATEN erwähnt: PIRATEN hätten wichtige Impulse z.B. im Datenschutz in die Politik gebracht (es war sicher mehr als das). Aber warum bitteschön, sind frische Impulse genau dann nicht mehr wichtig, wenn die Politik sie am dringendsten braucht? Braucht 2017 keine frischen Impulse?

Ihre Stärke bezieht die AfD aus Parteienverdrossenheit, Unzufriedenheit und einer politischen Depression. „Weiter so“ ist da das komplett falsche Signal und Protektionismus ist der falsche Weg: Denn erstens führt der Protektionismus (also auch das campact-Wählen) dazu, dass sich alle AfD-Wählenden als Ganzes fühlen und jetzt erst Recht zusammenstehen, egal ob die AfD überhaupt annähernd die Hoffnungen der Wählenden erfüllen kann. Zweitens verhindert der Protektionismus dringende Innovationen im Politikbetrieb. Drittens ist Protektionismus immer eine aussichtslose Verteidigungsstrategie. Das ist beim Diesel und beim Faustkeil nicht anders als in der Politik. Protektionismus ist niemals offensiv, niemals progressiv und niemals vorwärtsgewandt.

Wohin wollt Ihr denn? Wollt Ihr Euch echt vor die großen Parteien stellen, damit die weitermachen wie bisher? Politische Verantwortung im Dieselskandal runterspielen, Interessensvermengung schützen, bei Flüchtlingskatastrophen wegsehen, Spionageskandale ignorieren, soziale Schieflagen aussitzen?

Dann dürft Ihr Euch aber auch nachher nicht darüber aufregen. Nicht, wenn auf lange vernachlässigte Notstände und Politikfelder mit wirkungsloser Symbolpolitik reagiert wird (z.B. Mietpreisbremse). Nicht, wenn libertäre und soziale Errungenschaften einfach kassiert werden (z.B. Briefgeheimnis, VDS). Nicht, wenn mal wieder Minister ihre eigenen Interessen ins Ministerium mitbringen (z.B. Medienminister NRW).

Derzeit lässt sich die politische Öffentlichkeit von Märchen gängeln, die schreckliche Dystopien prophezeien: Fremde werden uns überschwemmen, der Terror uns töten, Freiheit wird für Verbrechen missbraucht. Der aktuelle Politikbetrieb dreht sich nur noch darum, diese angeblichen Dystopien zu verhindern und den Status quo, das „weiter so“ beizubehalten. Dabei sollen das aktuelle politische Parteiensystem und die politischen Prozesse um jeden Preis erhalten werden. Der Preis ist hoch: Der angeblichen Bedrohungslage werfen wir unsere individuelle Freiheit und all die gesellschaftlichen Errungenschaften zum Fraß vor, die wir zuvor über Jahrzehnte in langen Kämpfen erworben haben. Terrorismus verhindern wir dadurch nicht, wir machen ihn nur attraktiv, indem wir darauf reagieren und die Herausforderungen für die Terroristen sowie den Einsatz erhöhen.

Dieser fatale Protektionismus der großen Parteien hat dabei keinen Platz für eine Zukunft, die anders aber vielleicht besser ist, als die Gegenwart. Er ist von Angst geprägt. Das politische Wagnis ist ausgeschlossen. Unrealistisch, weil „politisch nicht durchsetzbar“. Kein Mut, keine Visionen, keine Utopie. Ohne das Vertrauen und die Hoffnung in eine bessere Zukunft (und nicht nur das Verhindern einer Dystopie), ohne das gespannte und kribbelnde Gefühl durch Politik eine bessere Welt, eine Utopie, schaffen zu können, bleibt uns nur noch beißender Zynismus und dahinter Resignation und Depression.

Wollt Ihr Depressionen oder eine bessere Welt? Was ist erstrebenswert, was davon ist unrealistisch, weil „politisch nicht durchsetzbar“ oder weil Ihr „strategisch gewählt“ habt?

Das kuriose ist: Genau das sind auch die Mittel der AfD: Angst, drohende Dystopien (Überfremdung, Terror, Wirmüssenzahlen) und Protektionismus. CDU, CSU, SPD, LINKE, Grüne und FDP mögen sich genau wie PIRATEN und PARTEI von Rechts abgrenzen, aber sie tragen zur dystopischen Stimmung bei.

Dass diese politische Stimmung über Wahlen entscheidet und nicht die politische Arbeit der Abgeordneten, weiß ich gut. Ich saß fünf Jahre für die Piraten im Landtag. Meine und unsere Arbeit dort wurde von Fachleuten hoch gelobt, mitbekommen hat es die Öffentlichkeit nicht. Dafür haben wir endlos an Debatten teilnehmen müssen, die nur die politische Stimmung trieben – vielleicht mit etwas Symbolpolitik garniert.

Außerdem habe ich erlebt, wie Kleinparteien wirken: Solange wir in den Umfragen gut dastanden, haben wir größere politische Erfolge erzielt. Als die Umfragen schlechter wurden, konnte man uns getrost ignorieren und ausgrenzen. Doch auch mit wenigen Stimmen hat man Gewicht und mit jeder weiteren Stimme etwas mehr.

Jede Stimme für eine Partei ist ein politisches Statement. Das Statement kann „weiter so“ lauten oder „fuck you all, brennt alles nieder und tötet auch die Kinder, mir egal“ oder aber „habt Mut zur Utopie“. Das Statement ist entscheidend und wirkt. Ob die AfD mit ihrer Anzahl an Stimmen nun X oder Y Abgeordnete in den Bundestag bekommt, ist dagegen sowas von scheißegal. Wenn sie wirklich einziehen, dann sollen sie auch ihre letzten Querulanten und potentiellen Abweichler der Listen mitziehen. Das wird die Fraktion der AfD durch interne Machtkämpfe eher schwächen als stärken. Es ist gottverdammt zu wichtig, was ihr wählt! Euer Statement ist wichtig! Eure Stimme für eine vermeintlich strategische Wahl zu verschenken, ist eine ganz ganz schlechte Empfehlung.

Für uns Piraten geht es nicht darum, eine gute Verwaltung zu wählen, die bloß nichts verkehrt macht.
Exkurs: Politik braucht Utopien!

Piraten wollen die politischen und gesellschaftlichen Errungenschaften erhalten, sie wollen aber keinen Protektionismus. Piraten haben keine Angst vor Veränderungen, keine Angst vor Neuem, keine Angst vor Experimenten, keine Angst vor dem politischen Scheitern, weil Ideen noch nicht reif oder noch nicht ausgereift sind. Das ist kein leeres Wahlversprechen, wir haben es mehrfach bewiesen. Jeder Impuls ist wichtig, der erste Versuch ist die Grundlage für den zweiten. Die Zukunft wartet nicht. Die Digitale Revolution wartet nicht. Wir müssen und können politisch gestalten, wie sich die Welt entwickelt. Wir sind selbst dafür verantwortlich ob alle Menschen oder nur einige Konzerne vom technischem Fortschritt profitieren.

„Das ist politisch nicht durchsetzbar“ ist kein Grund. „Ihr kommt doch eh nicht in den Bundestag“ ist auch kein Grund. Beides lässt sich ändern. Durch Deine Stimme können auch das Bedingungslosen Grundeinkommen oder der Fahrscheinfreie Nahverkehr Wirklichkeit werden.

Durch die 5%-Klausel zusammen mit Wahlumfragen werden Aussagen wie „ihr kommt doch eh nicht rein“ schnell zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Das ärgert uns, denn selbstverständlich ist es leicht, reinzukommen, wenn alle einfach nur der Meinung sind, man würde es schaffen. Doch auch unter 5% gibt es neben dem Statement und dem politischen Wirken handfeste formale Auswirkungen. 0,5% reichen bereits für die Parteienfinanzierung und die ist auch für PIRATEN wichtig. Mit Parteienfinanzierung können wir besser arbeiten, Räume anmieten, zählen unsere eigenen Spenden doppelt.

Für Protestwählende: Überlegt es Euch gut, ob Ihr wirklich eine zerstörerische Protestpartei wählen wollt, die den Parlamentarismus gar nicht erneuern will. Die das Parlament instrumentalisiert und nur für die eigenen Zwecke missbraucht … oder ob Ihr (z.B. mit den Piraten) eine Partei wählen wollt, die tatsächlich positive Veränderungen und mehr Offenheit statt bloß Selbstschutz erreichen will und dies in den Landtagen bereits gezeigt hat.

Ein Aufbau von Hürden und ein Abbau von Beteiligung – auch im Parlament – trifft immer die Demokratie, aber selten diejenigen, die nur stören wollen; das schaffen die nämlich auch so – während funktionierende demokratische Prozesse im Zweifel nur sehr schwer wieder herzurichten sind.

Exkurs: Parlament braucht fortschrittliche Debattenkultur

Wenn Ihr also die FDP wählen wollt, weil der Kevin so süß ist, macht es. Wenn Ihr mit der Politik der vier Bundestagsparteien zufrieden wart, dann wählt die halt, aber: Strategisch große Parteien gegen die AfD wählen ist Bullshit!

Erstveröffentlichung am 23. September unter: http://www.oliver-bayer.de/statement-setzen-statt-strategisch-waehlen/